[Lesen Sie bitte zuerst den ersten Teil des Beitrags, den Sie hier finden können!]

Wenn die Unterhaltung mit meinen Fahrgästen das zweite Thema, was ich in München machte, berührte, klang sie ungefähr so:
„Fahren Sie hauptberuflich Taxi?“
„Nein, ich bin Student. Mit dem Taxifahren verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt und finanziere mein Studium.“
„Und was studieren Sie, wenn ich fragen darf?“
„Sie dürfen schon fragen. Ich studiere Germanistik.“
„Germanistik?! Und was wollen Sie mit Germanistik nach dem Studium machen?“

Das war eine heikle Frage. Das war für mich die Reizfrage überhaupt. Schon allein der erstaunte Ton, in dem die Frage meistens gestellt wurde, irritierte mich. War ich schon müde und genervt durch das stundenlange Autofahren, habe ich dann – besonders, wenn neben mir ein Geschäftsmann saß – mit einer Gegenfrage geantwortet:
„Sagen wir so: Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der alle nur Betriebswirtschaft, Maschinenbau oder Informatik studieren oder studiert haben?“ Und ohne meinem Fahrgast die Zeit zu lassen, um darauf zu antworten, habe ich hinzugefügt: „Ich persönlich möchte mir so eine Welt lieber nicht vorstellen.“ Und das Thema war für mich erledigt. Der Fahrgast war brüskiert, und nach einigen Minuten Schweigen sprachen wir dann nur noch über das Wetter oder über Fußball.
Wenn ich hingegen gut gelaunt war oder gerade angefangen hatte zu arbeiten und mit mir im Auto ein sympathischer Mensch saß, der Respekt vor anderen Lebensentwürfen zeigte, war auch meine Antwort eine andere: „Ich studiere Germanistik, Philosophie und Soziologie aus reinem Interesse (was die absolute Wahrheit war), weil ich die Literatur liebe und weil ich die Menschen, das Leben und die Welt, in der ich lebe, besser verstehen möchte.“
„Und haben Sie schon in Italien Deutsch gelernt?“
„Nein, als ich nach Deutschland kam, bestand mein deutscher Wortschatz aus nur zwei Wörtern – wobei ich eine Zeitlang gedacht habe, die Wörter, die ich schon kannte, wären drei gewesen, eines davon muss ich aber inzwischen wohl vergessen habe. Ich konnte „Kartoffel“ und „kaputt“. Wie Sie sich auch gut vorstellen können, hatte ich hier am Anfang einige Schwierigkeiten, mich damit mit den Leuten zu verständigen. Fragen Sie mich jetzt aber nicht, warum ich ausgerechnet die Wörter „Kartoffel“ und „kaputt“ kannte. Ich weiß es wirklich nicht.“

Jeder fährt irgendwann in seinem Leben einmal Taxi und ich hatte während der Studienzeit viele interessante, nichtssagende, nette, unerträgliche, liebenswürdige, abstoßende, duftende und auch übel stinkende Menschen neben mir sitzen. (Manchmal musste ich, nachdem gerade einer der am übelsten riechenden Sorte von Fahrgästen ausgestiegen war, sogar ein paar Mal um einen Wohnblock mit offenen Fenstern fahren, um die Luft in meinem Taxi zu reinigen.) Ich habe auch viele seltsame Leute kennengelernt und einige sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Die alte, gebrechliche und etwas unordentlich gekleidete Dame zum Beispiel, die in einer Gaststätte in der Innenstadt gegessen und getrunken hatte und nicht zahlen konnte, weil sie ihre Brieftasche zu Hause vergessen hatte. Sie konnte allein schlecht laufen und der Kellner hatte ihr dabei geholfen und sie bis zu meinem Auto begleitet – der Taxistand lag gerade vor der Gaststätte. Ich fuhr sie dann nach Schwabing nach Hause, ging mit ihr hoch in ihre Wohnung und wartete zehn Minuten in der Tür, während sie das Geld überall suchte oder so tat, als würde sie es suchen. „Na, wo isses denn? Wo habe ich es bloß hingetan? Hier ist es auch nicht…“ Ich sah ihre ärmlich eingerichtete und genau so wie ihre Kleider unordentliche Wohnung und irgendwann verstand ich, dass sie mir nur etwas vorspielte und doch kein Geld hatte, weder in der Brieftasche, noch woanders in der Wohnung. „Machen Sie sich keine Sorgen“, habe ich zu ihr gesagt, „die Fahrt schenke ich Ihnen.“ Als ich wieder im Auto saß, kam mir der Gedanke: „Und was ist, wenn sie das jeden Sonntag macht?“

Oder ich erinnere mich noch genau an eine Frau um die vierzig, die zu einem Park nach Pasing fahren wollte. Sie trug einen hellbraunen, etwas abgetragenen und schmutzigen Mantel und hatte viele Plastiktüten bei sich. Es war Winter, es lag Schnee und der Himmel war grau. Sie war nervös und sagte, sie wäre an dem Tag spät dran. Ob ich nicht ein bisschen schneller fahren könnte? Als wir ankamen, bat sie mich, auf sie zu warten, stieg mit zwei Tüten aus und ging zu einer mit Schnee bedeckten Wiese, wo sie dann anfing, die Arme in die Luft zu schlagen und seltsame Laute von sich zu geben, als wäre sie ein Rabe. Von ihren Rufen gelockt, flogen dann tatsächlich auch einige Raben zu ihr, und sie fütterte sie mit etwas, das sie einer Tüte entnahm. Als die Frau eine Viertelstunde später wieder zu mir ins Auto stieg, sagte sie mir mit einer untröstlichen Stimme: „Heute bin ich doch zu spät gekommen. Die meisten Vögel waren gar nicht mehr da.“

[Den 3. Teil des Beitrags können Sie hier lesen: „Taxifahrergeschichten (Teil 3)„]

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