[Lesen Sie bitte zuerst den ersten Teil des Beitrags: „Ich habe gewählt! (Teil 1)“]

Irgendwann kommt doch jemand, ein Deutscher, und macht das Tor auf. Die meisten wissen schon, wo sie hingehen müssen. Sie steuern direkt einem zweiten Gebäude zu, das 50 Meter weiter zurückliegt. Es sind bestimmt auch einige Wahlhelfer dabei, die den Weg kennen, denke ich. Ich folge ihnen. Wir gehen hinein und in den ersten Stock hinauf. Und dann stehen wir alle vor einer Glastür, die ebenfalls geschlossen ist. Natürlich hat keiner den Schlüssel! (Ich hätte mich über so viel Voraussicht gewundert!) Jemand ruft den Hausmeister an, der aber noch im Bett liegt, und informiert dann die Anwesenden: „L’ausmeister era ancora a letto, ma adesso viene qui.“ (Der Hausmeister war noch im Bett, aber jetzt kommt er hierher).

Und wieder muss ich meine Landsleute bewundern: Wie sie mit großer Gelassenheit und Geduld die Unannehmlichkeiten des Wartens hinnehmen, ohne sich zu beschweren. Ich erkenne meine Landsleute kaum wieder. Früher hätte es einen allgemeinen Aufstand gegeben. Alle hätten laut durcheinander geredet und geschimpft. Jetzt habe ich den Eindruck, der einzige zu sein, dem das ungeplante Warten nicht so richtig passt. Dafür habe ich wieder eine Erklärung parat: „Sie sind bestimmt noch nicht lange in Deutschland“, denke ich, „das sind die neuen „espatriati“, die an solche Zustände gewöhnt sind und nicht einmal mehr die Kraft haben, sich darüber aufzuregen. Es ist sowieso sinnlos, und das wissen sie.“

Weil keiner ein Wort sagt, muss ich selber nachfragen:
„Ma cosa significa „adesso viene”? Dov’è, dove abita sto Hausmeister? E quanto tempo ci mette a venire qui?” (Was bedeutet aber: “Jetzt kommt er”? Wo ist, wo wohnt dieser Hausmeister? Und wie lange braucht er, bis er da ist?)
“Ah, questo non lo so.“ (Ach, das weiß ich nicht.)
“E allora noi cosa facciamo? Stiamo qui un’ora ad aspettarlo davanti alla porta chiusa?” (Und, was machen wir jetzt? Bleiben wir hier eine Stunde vor der geschlossenen Tür stehen und warten auf ihn?)

Niemand reagiert auf meine Fragen und unterstützt meinen Protest. Was soll’s, denke ich mir, und schaue aus dem Fenster auf dem Treppenabsatz. Ich überlege, ob ich vielleicht zuerst einkaufen gehen und erst in einer Stunde wieder vorbeischauen soll, ob der Hausmeister inzwischen eingetroffen ist. Ich habe aber keine Lust, den gleichen Weg hin und zurück zweimal zu fahren und warte lieber. Eine Viertelstunde später ist der Hausmeister endlich da. Er sieht so aus wie jemand, der wegen eines Erdbebens oder eines Feuers im Haus aus seinem Bett springen, sich schnell anziehen und aus dem Haus stürzen musste.

Eine junge Frau bespricht kurz mit ihm die Schlüsselübergabe am Abend. Ich bekomme mit, dass er Karamalikis oder Taramazikis heißt. Er ist Grieche. „Una faccia, una razza … e stesse abitudini“. Grieche und Italiener: Wir sind doch Verwandte.

Als die Wahllokale endlich geöffnet werden, verschwinden fast alle darin. Die 15 oder 20 wartenden Personen vor dem Tor waren also fast ausschließlich Wahlhelfer! Von wegen Bürgersinn und demokratisches Bewusstsein! Deswegen war es ihnen im Grunde auch egal, ob sie ihre Zeit in den Wahllokalen oder draußen totschlagen mussten.

Draußen im Korridor bleiben wir nur zu dritt. Ein italienisch aussehender Mann, ich und ein dritter älterer Herr mit Bierbauch, der unaufhörlich auf Deutsch schimpft (der einzige übrigens – abgesehen von mir mit meinen ungeduldigen Fragen – der gemeckert hat). „Was macht der denn da?“, frage ich mich. Die deutschen Wahllokale öffnen doch erst morgen. Oder ist er Italiener, lebt aber schon so lange in Deutschland, dass er seine Muttersprache völlig verlernt hat? Es soll tatsächlich solche Fälle gegeben haben. Dann fällt es mir ein: Er ist bestimmt ein Südtiroler!

Die jungen Wahlhelferinnen bereiten in dem Lokal, in dem ich wählen soll, schnell alles vor und stellen auch etwas Obst auf die Tische. Sie haben wahrscheinlich noch nicht gefrühstückt. Dann fragen sie freundlich die Anwesenden, ob jemand auch eine Banane haben möchte. „Um Gottes willen!“, antwortet der Südtiroler immer noch aufgeregt, „davon kriegt man Verstopfung!“

Endlich bekomme ich meinen Wahlzettel, werde aber informiert, dass man kein Kreuz über dem Partei-Symbol machen sondern nur einen Schrägstrich ziehen muss.

„Warum denn jetzt? In meinem ganzen Leben habe ich immer mit einem Kreuz gewählt!“, frage ich auf Italienisch nach.
„Questa volta è così.“ (Diesmal ist es eben so).

In einer Verordnung soll angeblich stehen, dass man „con un unico segno“ (mit einem einzigen Zeichen) wählen soll. Bei einem Kreuz sind es genau gesehen zwei Zeichen. Die Italiener erstaunen mich immer wieder aufs Neue. Jetzt sind sie auf einmal genauer und pingeliger als die Deutschen geworden. Die Wahlhelfer verweisen mich auf ein Plakat an der Wand, auf dem mit einer handgemachten Zeichnung gezeigt wird, wie man mit einem einzigen Strich wählen soll. Ich schaue mir das genau an. Nicht dass ich den Strich in die falsche Richtung von oben links nach unten rechts statt von unten links nach oben rechts ziehe und meine Stimme dann womöglich ungültig ist! Zum Wählen an sich brauche ich nicht einmal 10 Sekunden.

Die Geschichte des einzigen Strichs ließ mir keine Ruhe, und einmal zu Hause wollte ich unbedingt erfahren, von wem und wann das Verfahren der Stimmabgabe geändert wurde. So habe ich ein wenig im Internet recherchiert. Über eine Änderung konnte ich jedoch nichts finden. In allen Erläuterungen aus der Website des Innenministeriums stand die bekannte Zeichnung, welche die Abgabe der Stimme durchs Ankreuzen eines Parteisymbols zeigte. Bei der Stimmenauszählung in Rom wird man dann wohl erkennen, was die allerklügsten Wähler aus den südlichen Stadtteilen von München – die einzigen wahrscheinlich, die einen einzigen Strich gezogen haben – gewählt haben. Vielleicht braucht jemand aus statistischen Gründen genau solche Erkenntnisse…

Und was ist mit unserem italienischen Journalisten, der zweimal gewählt hat? Ich muss gestehen, dass ich ihn überhaupt nicht verstanden habe. Für sein Verhalten gibt es verschiedene Erklärungen:

1) Er hat die italienische Wahlbenachrichtigung nicht umgedreht und den Hinweis, dass man nur einmal wählen darf, nicht gesehen,
2) er hat die Wahlbenachrichtigung wohl umgedreht, aber den Hinweis übersehen,
3) er hat die Wahlbenachrichtigung umgedreht, den Hinweis gesehen, aber ihn nicht verstanden,
4) er kennt das demokratische Grundprinzip „Ein Wähler, eine Stimme“ nicht oder hat es vergessen,
5) er kennt das entsprechende „Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz – EuWG), insbesondere § 6 Wahlrecht, Ausübung des Wahlrechts, nicht,
6) er hat die Wahl des europäischen Parlaments mit der Bundestagswahl verwechselt, bei der wohl jeder Wähler zwei Stimmen abgeben kann,
7) er hat alles nicht gewusst, zwei Wahlbenachrichtigungen bekommen und eben zweimal gewählt. Er hatte also einfach keine Ahnung (so hat er sich auch später öffentlich entschuldigt). Solche Leute macht man in Deutschland anscheinend besonders gerne zu Chefredakteuren großer Zeitungen.
8) Er wollte uns etwas zeigen oder beweisen. Aber was genau?

Auch hier kann man nur spekulieren:
1) Er erkennt das bestehende Wahlrecht nicht an und will dagegen protestieren,
2) durch Wahlfälschung wollte er auf eine Lücke im EU-Wahlsystem hinweisen und einen Beleg für das „Demokratiedefizit“ der Europäischen Union liefern. Dafür ist er bereit, wenn nötig, auch fünf Jahre ins Gefängnis zu gehen.

Wie dem auch sei… wetten wir, dass man irgendeinen Weg finden wird, damit ihm das Gefängnis erspart bleibt?