[Lesen Sie bitte zuerst Teil 1 des Beitrags, die Sie hier finden können: Teil 1]

Eines Tages fuhr ich mit dem Fahrrad einkaufen. Ich kam zurück und wollte gerade das Fahrrad im Hof abstellen, als eine Nachbarin kurz nach mir ebenfalls mit dem Fahrrad in den Hof fuhr und sofort, keuchend – sie muss sehr schnell gefahren sein -, anfing mich anzuschreien. „Was will die jetzt von mir?“, habe ich mich völlig verdutzt gefragt. So gut kannte ich sie auch nicht. Ich hatte sie nur ein paar Mal im Treppenhaus getroffen. Ich war außerdem erst wenige Monate in Deutschland und verstand immer noch so gut wie gar nichts, besonders, wenn die Leute auf Bayerisch redeten, was leider oft der Fall war.

Die Frau redete und redete sehr laut und wollte damit nicht mehr aufhören. Sie hat gemacht, was man eine richtige Szene nennen könnte. Warum? Das konnte ich nicht herausfinden. Nur eines verstand ich, auch weil sie es vielleicht mindestens zwanzigmal wiederholte: „Dreimal rote Ampel!“ Also, wiederholen ist beim Sprachen lernen und lehren immer sehr gut, und meiner Meinung nach die einzige Methode, die wirkt und Erfolg verspricht. „Rot“ verstand ich, es heißt „rosso“. Das Wort „dreimal“ war mir auch bekannt – auch wenn ich vielleicht dachte, es wird getrennt geschrieben: „drei Mal“ -, aber „Ampel“?! Was soll das sein? Nie gehört. Keine Ahnung, was eine Ampel ist.

Während ich so überlegte, kam – angelockt vom großen Lärm – die Ehefrau des Polizeileiters ans Fenster, hörte eine Weile der Nachbarin zu, die jetzt zu ihr sprach, ging wieder und erschien kurz darauf am Fenster mit einem roten Pulli in der Hand, den sie anfing in der Luft zu schwenken, während sie sich hinauslehnte und laut in meine Richtung “Rot! Rot!“ schrie. Das war wiederum keine gute Methode. So kann man wirklich einem Ausländer kein Deutsch beibringen! Das erinnerte mich ein wenig an die dämliche Methode, nach der ich in einer privaten Münchner Sprachschule Italienisch unterrichten musste. Ich hätte auch denken können, dass „rot“ das deutsche Wort für „Pullover“ ist.

Mit den paar Wörtern, die ich kannte und ein wenig Englisch habe ich versucht, den zwei Damen zu erklären, dass sie – wenn es irgendwelche Probleme im Haus gegeben hat – am Abend bei uns klingeln sollten, um alles am besten mit meiner Freundin zu klären, und verabschiedete mich. Als ich Stunden später von meiner Freundin erfuhr, die inzwischen nach Hause gekommen war, was Ampel bedeutet, war ich sprach- und fassungslos. Ich konnte es nicht glauben. Es überstieg einfach mein Fassungsvermögen von damals. So ein Theater im Hof nur wegen drei roter Ampeln zu veranstalten! „Die Nachbarin ist nicht mehr ganz dicht im Kopf“, habe ich zu meiner Freundin gesagt, „sie muss bestimmt geisteskrank sein. Um mich dreimal gesehen haben zu können, muss sie außerdem auch selbst mindestens einmal, wahrscheinlich sogar zweimal bei Rot gefahren sein. Oder sie beobachtet mich schon seit einiger Zeit und hat zu Hause eine Liste, in die sie jedes Mal meine Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung einträgt.“ Damals kannte ich die Deutschen überhaupt nicht und wusste auch nicht, dass Deutschland das Land mit der höchsten Polizistendichte der Welt ist. In Italien gibt es vielleicht einen Polizeibeamten für 500 Einwohner, in Deutschland so gut wie einen Polizeibeamten pro Einwohner. Das heißt aber nicht, dass die Hälfte der deutschen Bevölkerung echte Polizisten oder Leute sind, die am liebsten Polizisten geworden wären. Nein! Das heißt, dass alle potenzielle Polizisten sind und jeder je nach Lage und Gegebenheiten die Rolle des Polizisten übernimmt. Wie bei den Kindern, die Räuber und Gendarm spielen. Die Rollen sind austauschbar. Wer heute Räuber ist, ist morgen Gendarm. Man beobachtet sich ständig und ruft sich gegebenenfalls beim kleinsten Verstoß gegenseitig zu Ordnung und zur Einhaltung des Gesetzes.

In Deutschland wissen viele, die schon mal in Italien im Urlaub waren, dass die Italiener die Ampeln nicht so ernst nehmen. Und es ist auch gut so! Die meisten Regeln und Verbote dienen einem bestimmten Zweck. Der Sinn des Verbots, bei Rot über eine Kreuzung zu fahren, ist, nehme ich an, Unfälle mit Autos zu vermeiden, die auf der Querstraße fahren und nicht etwa, den Gehorsam eines auto- oder fahrradfahrenden Bürgers immer wieder auf die Probe zu stellen.

Eine Bekannte von mir kam neulich entsetzt von einer Reise nach Sizilien zurück. Sie und ihr Freund hatten ein Auto am Flughafen von Catania gemietet und fuhren damit in die Stadt. Sie wären gerne auch dort an jeder Kreuzung bei einer roten Ampel stehen geblieben, aber als sie es ein- oder zweimal versucht und ein regelrechtes Hupkonzert der Autofahrer verursacht hatten, die hinter ihnen waren, mussten sie sich schnell an die lokale Fahrweise und die örtlichen unausgesprochenen Fahrregeln anpassen. Bevor man sich auf die Reise macht, sollte man sich also zuerst genau erkundigen. Nur wegen einer roten Ampel kann man doch nicht gleich den ganzen Verkehr einer Stadt wie Catania zum Erliegen bringen und Straßen verstopfen!
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Wenn ich es mir jetzt, nach so vielen Jahren, überlege, hat diese Geschichte aber auch ihre positiven Aspekte, muss ich gestehen. Dank meiner damaligen Nachbarin habe ich ein neues Wort gelernt, das ich mein Leben lang nie wieder vergessen werde: Ampel.

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