[Lesen Sie bitte zuerst Teil 1 und Teil 2 des Beitrags, die Sie hier finden können: Teil 1, Teil 2]

… oder die Frau mit den Fischen, die ich nie vergessen werde.

Sie war vielleicht Mitte fünfzig, gepflegt und ordentlich angezogen, die Haare schön frisiert. Ich holte sie bei einem kleinen Haus in Grünwald ab. Nicht aus dem Teil von Grünwald, wo Superreiche und Angeber jeder Art wohnen, sondern aus der alten Siedlung, die nach dem Krieg gebaut wurde und im Süden der Stadt, am Waldrand, lag. Die Frau hatte ein Taxi bestellt und wartete schon am Straßenrand, als ich ankam. Sie stieg ins Auto ein und setzte sich vorne neben mich.

„Guten Tag, wo fahren wir hin?“

„Grüß Gott! Bringen Sie mich bittschön nach Haar zum Bezirkskrankenhaus. Wissen Sie, wo das ist?“

Sicher wusste ich das. Wer in München kennt das Bezirkskrankenhaus Haar nicht? Das ist die Psychiatrie!

„Ja, das weiß ich.“

Ich schaltete den Taxameter ein und fuhr los. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens habe ich versucht, eine Konversation mit der Dame zu beginnen. Zunächst habe ich mich mit ihr wie schon mit Hunderten von anderen Fahrgästen zwanglos unterhalten. Die üblichen Gesprächsthemen: das Wetter, der Straßenverkehr, irgendein aktuelles Ereignis. Dann kamen wir auf das „Bezirkskrankenhaus Haar“ zu sprechen …

„Müssen Sie dort im Krankenhaus jemanden besuchen?“, habe ich sie gefragt.

„Nein, ich muss selber hin.“

Erstaunt habe ich mich zu ihr gedreht und sie kurz in der Absicht betrachtet, irgendwelche Anzeichen des Wahnsinns in ihrem Gesicht und ihren Augen zu erkennen. Die Frau kam mir aber völlig normal vor. Sie war nicht anders als alle anderen Fahrgäste, die ich durch die Stadt gefahren hatte. Sie sprach verständlich und kein wirres Zeug.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Und ich wollte fast hinzufügen, Sie sehen eigentlich ganz normal und nicht so aus, als wären Sie verrückt!

„Doch, ich bin völlig gesund. Na ja, es ist so… wissen Sie, wegen den Fischen.“

„Fische? Was haben denn Fische mit Haar zu tun?“

„Ich habe ein Problem… Ich sehe Fische!“

„Ach so! Das ist aber doch nicht so schlimm, oder? Ich habe auch in meinem Leben schon so viele Fische gesehen, muss aber deswegen nicht nach Haar. Was sind das für Fische?“

„Das sind aber große Fische! So groß…“ Und um mir die Größe zu zeigen, hielt sie ihre Hände vor sich, die Handflächen aufeinander zeigend, mindestens fünfzig Zentimeter voneinander entfernt.

„So große Fische?! Und wo sind die?“

„In meiner Wohnung, unter dem Tisch, unter dem Schrank. Ich drehe mich um und sehe plötzlich einen, der unter das Bett schwimmt. Die schwimmen mittlerweile überall auf dem Boden, in der Küche, im Schlafzimmer, im Korridor… “

„Jetzt verstehe ich. Aber warum gleich nach Haar gehen wollen? Das verstehe ich wiederum nicht. An Ihrer Stelle würde ich es zuerst mit einer Katze versuchen.“

„Mit einer Katze?“

„Ja, warum nicht? Hätten Sie eine Katze in Ihrer Wohnung, dann würden sich vielleicht die Fische gar nicht mehr so leicht blicken lassen. Außerdem würde Ihnen die Katze auch Gesellschaft leisten. Sie wohnen allein, oder?“

„Ja.“ Die Dame schwieg eine Weile und schien nachzudenken. „Wollen Sie sich über mich lustig machen?“

„Warum denn? Auf gar keinen Fall. Ich meine es ernst. Ein Haustier zu haben, bewirkt manchmal Wunder.“

„Haben Sie auch welche?“

„Nein, ich wohne nur in einem kleinen Zimmer und bin meistens nicht zu Hause. Ich kann kein Tier darin einsperren. Wenn ich aber wie Sie ein Haus mit Garten hätte, würde ich vielleicht auch ein Haustier, eine Katze oder einen Hund, halten. Was machen Sie, wenn Sie einen Fisch in Ihrer Wohnung entdecken?“

„Ich hole den Besen heraus und versuche den Fisch wegzujagen. Was soll ich sonst tun? Sie wissen aber nicht, wie schnell die sind! Ein Husch mit dem Schwanz und der Fisch ist schon unter dem Bett.“

Ich versuchte mir die so gelassene und höfliche Frau vorzustellen, die sich allein in ihrer Wohnung in eine wilde Jägerin verwandelt und mit dem Besen in der Hand im Korridor hinter imaginären Fischen her rennt. Eine recht seltsame Vorstellung…

Die ältere Frau verhielt sich während unserer Konversation ganz unauffällig und sprach mit mir über die Fische, die in ihrer Wohnung schwammen, als ob wir über kleine Gartenmäuse redeten, die sich in ihre Wohnung eingeschlichen hatten und die nachts an den Essvorräten in ihrer Speisekammer nagten.

Auf diese Weise miteinander redend kamen wir in Haar an. Ich hielt vor dem Haupteingang. Die Frau zahlte den Fahrpreis, und ich verabschiedete mich von ihr: „Dann auf Wiedersehen und alles Gute!“ Ich blieb mit dem Auto noch eine Weile stehen und sah ihr nach, wie sie, ihren Koffer hinter sich her schleppend, zum Haupteingang des Krankenhauses ging. Vielleicht hat sie Kinder, dachte ich, die sie mit viel Liebe und Mühe großgezogen hat, denen sie einen wesentlichen Teil ihres Lebens geopfert hat und die sich nicht mehr um sie kümmern. Oder ihre Kinder haben sie doch nicht vergessen, sie sorgen sich um sie, können aber nichts für sie tun und leiden selbst darunter: Sie arbeiten weit weg, haben selbst eine Familie und kommen mit ihrem eigenen Leben nicht zurecht. Ihr Mann ist wahrscheinlich an irgendeiner langen Krankheit gestorben, die auch an ihren Nerven gezehrt hat. Ihr Haus, in dem einst so viel Leben war, ist auf einmal leer. Was wird man ihr dort drinnen zwischen jenen finsteren Mauern in den nächsten Tagen alles antun, um ihr die Fische aus dem Kopf zu vertreiben? Eine tiefe Traurigkeit erfasste mich und ich empfand Mitleid mit ihr. Mir fiel Tschechows Erzählung „Der schwarze Mönch“ ein – der Professor aus der Erzählung hatte auch seltsame Visionen und wurde dementsprechend von Ärzten behandelt. Ich nahm mir vor, am Abend die Stelle darin nochmals zu lesen, in welcher der Professor gegen die Schulmedizin und die Fürsorge seiner Verwandten klagte und die ich nur sehr vage in Erinnerung hatte.

Auf dem Rückweg musste ich die ganze Zeit an jene Frau denken: „Es ist schon ziemlich merkwürdig, was mir diese Dame erzählt hat. Wie kann man das erklären? Gibt es in der Wohnung dieser Frau Fische oder nicht? Vielleicht besitzt sie übersinnliche Fähigkeiten, die es ihr ermöglichen, zeitweilig in eine andere Dimension einzutauchen und dort Dinge zu sehen, die sonst kein anderer normaler Mensch sehen kann.“ Mir fiel die Theorie der parallel existierenden Universen des Physikers David Deutsch ein. „Seltsam“, dachte ich, „die eine, die einen Blick in eine parallele Welt wirft, landet in der Psychiatrie, der andere, der die Existenz von parallelen Welten mathematisch bewiesen haben will, bekommt einen Lehrstuhl in Oxford und wird Professor. Die Welt war schon immer ungerecht! Wie stehe ich aber selbst zu diesen seltsamen Grenzerfahrungen und -theorien? Na ja, ich persönlich weiß gar nichts von solchen anderen Dimensionen. Ich kann also so lange suchen, wie ich will. Unter meinem Tisch und meinem Bett werde ich trotzdem keine lebenden schwimmenden Fische finden. Da ich auch nicht mit den Augen jener Frau sehen kann, werde ich weiterhin annehmen, dass Fische nur im Wasser leben können. Auf jeden Fall sind die Fische dieser einsamen Frau nichts Bedrohliches, weder für sie noch für andere, und haben ihr vielleicht nur Gesellschaft leisten wollen. Etwas ganz anderes wäre es, wenn ich plötzlich, während ich fahre, was weiß ich, Bisons oder Kamele mitten auf der Straße sehen würde. Das könnte sowohl für mich als auch für meine Fahrgäste zu einem ernsthaften Problem werden. Wen stören aber ein paar Fische unter dem Bett? Stell dir vor“ – sagte ich zu mir –, „sie hätten beide, sowohl die Frau mit den Fischen als auch der Physiker aus Oxford recht. Wer weiß, wie viele Tiere in meiner Wohnung herumlaufen, und ich sehe sie einfach nicht! Ob ich vielleicht einmal aufmerksamer hinschauen soll…?“