Während der ganzen Studienzeit in München habe ich fast jedes Wochenende als Taxifahrer gearbeitet. Es war eine anstrengende Arbeit: Ich saß bis zu zwölf Stunden ununterbrochen hinter dem Lenkrad, meistens wartete ich am Taxistand auf die nächsten Fahrgäste. Selbst die Wartepausen waren alles andere als erholsam. Ich konnte weder in Ruhe etwas lesen noch für mein Studium lernen – obwohl ich immer genau zu diesem Zweck etwas mit ins Taxi mitnahm. Ich musste aufmerksam die Auftragsvergabe der Taxizentrale im Funk verfolgen, um möglichst schnell den nächsten Auftrag zu ergattern, ansonsten wären die ohnehin schon langen Wartepausen noch länger geworden und ich hätte kaum etwas verdient.
Bei meiner Arbeit als Taxifahrer kam es mir besonders nachts manchmal so vor, als wäre ich in Wirklichkeit eine Art Sozialarbeiter. Ich fuhr einsame Menschen einfach durch die Gegend – sie wollten nirgendwohin und waren nur ins Taxi gestiegen, um mit jemandem reden zu können –; ich fuhr bei Tagesanbruch verzweifelte Menschen nach Hause, nachdem sie die ganze Nacht hindurch in einer Kneipe gesessen und sich dermaßen betrunken hatten, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr wussten, wo sie wohnten; Prostituierte, die mich zu sich nach Hause einladen wollten, und Bordellbesitzer, die sich aufregten, weil ich ihr Bordell immer noch nicht kannte (ich hätte also auch keine Kunden dorthin bringen können). In mein Taxi stiegen aber auch hübsche junge Frauen, modisch gekleidet, die sich nachts um eins in der exklusivsten Münchner Diskothek P1 verabredet hatten. Sie saßen hinter mir und sprachen während der Fahrt über ihre privatesten Angelegenheiten derart laut, als wäre ich gar nicht da. Ich existierte für sie als Mensch auch nicht. Sie betrachteten mich wahrscheinlich nur als einen Teil des Autos, in dem sie fuhren. Einmal habe ich nachts zusammen mit einem Kollegen eine ganze russische Delegation von einem Biergarten abgeholt und ins Babylon gefahren, das damals teuerste Bordell Münchens, im Auftrag eines Münchner Großunternehmens. Den Namen des Unternehmens wollte mir der deutsche Begleiter aus verständlichen Gründen nicht verraten. Full Service für die wichtigsten internationalen Kunden, bezahlt wahrscheinlich mit Geld aus schwarzen Kassen. Manche meiner Fahrgäste waren richtig unangenehm: Ein angetrunkener Mann hat mich einmal nachts auf einer Landstraße auf dem Weg zu einem Münchner Vorort plötzlich und ohne irgendeinen ersichtlichen Grund wüst beschimpft: „Du dreckiger Ausländer! Wirst nicht mehr lange bei uns Taxi fahren dürfen…“ „Was mache ich jetzt?“, habe ich überlegt, „halte ich an und schmeiße ihn raus, wobei ich mich dann vielleicht auch noch mit ihm prügeln muss? Ich glaube nicht, dass er freiwillig das Auto verlassen wird. Reden kann man mit solchen Menschen sowieso nicht. Und wenn er sich dabei verletzt oder ein vorbeifahrender Autofahrer uns sieht und die Polizei alarmiert? Ich verliere am Ende womöglich meinen Taxischein und meine Aufenthaltsgenehmigung.“ Ich habe also lieber geschwiegen und seine Hasstiraden gegen Ausländer ertragen, bis wir dann ankamen und er ausstieg, nicht ohne mit einem Fuß noch gegen das Taxi zu treten. Es war die Zeit der Politikersprüche wie „Das Boot ist voll!“, die Zeit der Angst vor „Überfremdung“ und der Hetzkampagnen gegen Ausländer, die vor allem von christlich-konservativen Politikern mit dem Ziel geführt wurden, das Asylrecht in Deutschland zu ändern. Es war die Zeit der Brandanschläge von Solingen, Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und von all jenen sinnlosen und grausamen Morden.
Nachts im Taxi erlebt man einen besonderen Menschenschlag, der tagsüber in der Stadt kaum anzutreffen ist oder einem bei Tageslicht nicht so leicht auffällt. Es ist so, als würde man erst dann, wenn es dunkel wird, einen Blick hinter die Kulissen des Scheinlebens einer Großstadt wie München werfen können. Was mir meine Fahrgäste nachts erzählten, war auf jeden Fall um einiges spannender als das, was ich von den Fahrgästen hörte, die ich tagsüber durch die Stadt chauffierte. Die Unterhaltungen am Tag verliefen immer nach dem gleichen Muster und kreisten vor allem um zwei Themen: Wo ich herkam und was ich in München machte. Ich hätte auch zwei Musterunterhaltungen auf Band aufnehmen und diese dann beim ersten Hinweis einfach im Kassettenspieler des Autoradios laufen lassen können, so ähnlich waren sich die Gespräche! Nach ein paar Jahren kannte ich den Ablauf der Gespräche auswendig: Ich wusste schon im Voraus, wonach mich meine Fahrgäste fragen würden, und hatte für jede erwartete Frage die entsprechende Antwort schon parat.
„Sie sind aber kein Deutscher, woher kommen Sie?“
„Ich komme aus Milano.“
„Ah, Mailand, Sie sind Italiener. Ich hätte eher Franzose gedacht. Mailand, sehr schöne Stadt…“
„Als Mailänder kann ich das leider nicht bestätigen, ich wollte schon immer diese graue, unmenschliche Stadt verlassen. Aber es ist sicher eine Reise wert, besonders, wenn man sich für Kulturgeschichte und Kunst interessiert.“ (Diese wäre aber schon eine Variation des Standardgesprächs gewesen. Danach hätte ich erklären müssen, warum die Stadt so grau und unmenschlich ist und ich in Mailand nicht mehr leben konnte. Es war aber ein zu persönliches Gespräch, das ich nur mit ausgewählten Fahrgästen führen wollte.)
„Wie sind Sie überhaupt nach München gekommen?“
Wie ich nach München gekommen bin? Mit einem LKW voller Tomatendosen, der mich damals am Brenner als Anhalter mitgenommen hatte. Das habe ich natürlich nicht gesagt, ich sah mich aber für einen Augenblick im Führerhaus neben dem süditalienischen Fahrer wieder, während wir die Autobahn zwischen dem Brennerpass und Innsbruck im Schneckentempo hinunterfuhren. Der Fahrer erzählte mir, wie ihm einmal nachts auf jener Strecke die Bremsen versagten und er, bangend um sein Leben, versuchte, wild hupend, um andere zu warnen, den rasenden LKW auf der Fahrbahn zu halten. Auf einmal verstand ich die Bedeutung all jener Abbildungen von heiligen Figuren, die sein Fahrerhaus schmückten.
Stattdessen habe ich geantwortet:
„Ich bin wegen einer schönen Münchnerin hierhergekommen“, genau wissend, dass für viele eine solche Antwort einer Provokation gleichkam. Manche, besonders Frauen, haben daraufhin gelächelt: „Ach, diese Italiener!“ Andere haben mit einem ungläubigen Ausdruck und Unverständnis reagiert.
Die Reaktion eines Mannes im Anzug auf meine Antwort werde ich mein Leben lang nicht vergessen: „Wieso denn“, fragte er mich daraufhin etwas irritiert, „gibt es in Italien nicht genug Frauen?“ Er sprach durchaus ernst und es lag keine Ironie in seiner Bemerkung. Ich war baff! War dieser Herr in seinem Leben noch nie verliebt gewesen? – Schon allein bei dem Gedanken an sein Gefühlsleben fröstelte es mich. Oder war es hauptsächlich Abneigung seinerseits gegenüber so viel Irrationalität? Menschen, die nicht nach Vernunftkriterien, nach einem festen Plan und nach genauem Abwägen von Vor- und Nachteilen handeln, die oft gar nicht bewusst entscheiden, sondern sich vom Leben treiben lassen, kommen den meisten Deutschen sehr suspekt vor.

[Den 2. Teil des Beitrags können Sie hier lesen: „Taxifahrergeschichten (Teil 2)„]

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