Ich lebe mittlerweile schon so lange in München, dass ich mir der kulturellen Unterschiede zwischen Italien und Deutschland erst dann wieder bewusst werde, wenn ich im Urlaub in Italien bin. Manche Eigenarten der Deutschen habe ich im Laufe der Jahre so gut verinnerlicht, dass mein Bruder in Italien mir oft sagt: „Guarda che qui non siamo mica in Germania!“ (Na hör mal, wir sind hier doch nicht in Deutschland!) oder „Adesso non fare il tedesco!“ Ich spiele aber nicht den Deutschen, ich bin halt einer geworden. Oder besser gesagt, bin ich nun ein Halbdeutscher geworden, was bedeutet, dass ich auch nur noch Halbitaliener bin! Es ist mir sogar schon einmal passiert, dass ich am Telefon – ich rief geschäftlich aus München nach Italien an – auch wahrscheinlich wegen meines nicht sehr italienisch klingenden Familiennamens, für einen Deutschen gehalten wurde:

– Sie sprechen aber gut Italienisch … mit ein wenig Akzent. Wo haben Sie es denn gelernt?

– Wo?! Zu Hause von meiner Mutter – die übrigens auch Lehrerin war – und später in der Schule. Ich bin doch Italiener, aus Milano!

Um mir wieder zu vergegenwärtigen, dass die Menschen in Deutschland anders als in meinem Heimatland denken, leben und sich verhalten, muss ich, wenn ich nicht gerade in Italien bin, an die ersten Monate meines Aufenthaltes in Bayern zurückdenken oder meine Notizbücher von damals lesen. Der anfängliche Kulturschock, den ich erlebte, war doch erheblich. Auch ganz alltägliche Situationen wie das Einkaufen versetzten mich ins Staunen. Mit großer Verwunderung sah ich zum Beispiel, wie die Kunden, die ein Geschäft betraten, in dem bereits andere Leute darauf warteten, bedient zu werden, das Ende der Warteschlange suchten und sich geduldig einreihten. In manchen Bäckereien am Samstagmorgen wandte sich die Schlange mit mehreren Kurven im Laden und endete nicht selten auch im Winter bei Regen und Schnee auf dem Bürgersteig meterweit vom Geschäftseingang entfernt. Ich war wirklich verblüfft. „Wie hat man es geschafft, die Menschen so zu zähmen und zu drillen?“ Das Einkaufen in Italien war immer wesentlich anstrengender gewesen. Jedes Mal musste man mit Entschlossenheit und ohne allzu große Rücksicht auf die anderen sein Recht erstreiten, bedient zu werden. Nichts für Schwächlinge oder höfliche und zurückhaltende Menschen. Beim Betreten eines Ladens war Kampf angesagt! Jeder steuerte direkt zur Theke hin, vor der bereits eine kleine Menschenmenge jeden freien Platz belegt hatte. Unter Einsatz der Ellbogen kämpfte man sich nach vorne und wenn man endlich in der ersten Reihe direkt vor der Theke stand, gab es jedes Mal die üblichen Diskussionen und Streitereien:

Erster Kunde: „Tocca a me!“ (Ich bin dran!)

Zweiter Kunde: „No, mi dispiace, ma Lei è arrivata dopo di me!” (Nein, es tut mir leid, aber sie sind nach mir gekommen!).

Dritter Kunde: „Prima di Lei comunque ci sono io!” (Vor Ihnen bin auf jeden Fall ich dran!)

Vierter Kunde: „Proprio Lei che è entrato per ultimo!” (Ausgerechnet Sie! Sie sind doch als letzter hereingekommen!)

Verkäufer (ungeduldig): „Allora, adesso a chi tocca?!” (Also, wer ist jetzt dran?!)

Sich in eine Reihe zu stellen und geduldig zu warten, können die meisten Italiener auch heute, Jahrzehnte später, immer noch nicht. Inzwischen wurde aber zum Glück in vielen Läden, vor allem in Supermärkten, ein Aufrufsystem mit Wartenummern eingeführt, mit dem wenigstens die schlimmsten Diskussionen vermieden werden können.

Wo es hingegen keine Zettel mit Wartenummern zu ziehen gibt, spielen sich oft immer noch erstaunliche Szenen ab. Letzten Sommer war ich im Urlaub auf Elba und wollte in der Früh eine Zeitung in einem überfüllten Zeitungskiosk in Marina di Campo kaufen. Eine Frau drängte sich nach vorne und sagte:

– Tocca a me! Devo prendere il traghetto! (Ich bin dran! Ich muss die Fähre nehmen!)

– Ma cara signora, sagte der Zeitungsverkäufer zu ihr, d’estate ci sono ogni giorno quasi cinquanta traghetti che vanno a Piombino. (Aber liebe Frau, im Sommer gibt es jeden Tag fast fünfzig Fähren, die nach Piombino fahren.) [Der Hafen von Portoferraio liegt übrigens circa 15 Kilometer von Marina di Campo entfernt, und in unmittelbarer Nähe der Anlegemolen befinden sich mehrere Zeitungsgeschäfte.]

Und dann, ironisch an die wartenden Kunden gewandt, die schon angefangen hatten, laut zu meckern: „Va be’, lasciate passare, per favore, la signora, altrimenti perde il traghetto!“ (Na gut, lassen Sie bitte die Dame vorbei, sonst verpasst sie die Fähre).

Aber auch dort, wo es Zettel mit Wartenummern gibt, sollte man in Italien ganz gut auf diejenigen aufpassen, die als Letzte kommen, irgendeine Nummer ziehen und sich unauffällig ganz nach hinten stellen. Sobald eine Nummer gerufen wird, bei der sich keiner innerhalb von zwei oder drei Sekunden meldet, drängen sie sich plötzlich nach vorne und rufen laut „Qui, qui, ce l’ho io il 54!“ (Hier, hier, ich habe die 54!) Und werfen ihren Zettel so schnell in den Korb auf der Theke, wo die bereits aufgerufenen Nummern gesammelt werden, dass ihn keiner sehen und überprüfen kann. (Jetzt, wo auch Sie den Trick kennen, versuchen Sie aber bitte nicht, ihn gleich bei Ihrem nächsten Italienurlaub anzuwenden!) Menschen, die sich so verhalten, sind typische Exemplare der leider immer noch sehr verbreiteten berüchtigten Sorte der „schlauen Italiener“. Das ist aber eine solch charakteristische Figur in Italien, dass man ihr eigentlich einen ganzen Artikel widmen müsste.

[Hier finden Sie den Beitrags: „Einkaufserlebnisse (2. Teil)„]

Bild von © Jorge Royan / http://www.royan.com.ar, via Wikimedia Commons